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Die Tasten sind die Noten, die sie anschlägt, der Bildschirm ist ihr Zauberspiegel. Wenn die Wände bedrohlich werden, sobald ihr nächster Geburtstag ebenso unbarmherzig näher rückt, dann öffnet dieses rechteckige Wunderding eine andere Welt – eine, die nur ihr allein gehört. Hier kann sie das sein, was sie möchte, kann das Bild, das sie erschaffen hat, wie eine Haut über das ziehen, was wirklich von ihr übrig geblieben ist. Es ist wie ein Malen-nach-Zahlen-Bild, das die eigene Eitelkeit entworfen hat.
Mit fahrigen Pinselstrichen wirft sie ein Bild auf die unendliche Leinwand dieses Zauberdinges, ändert es immer wieder, schon während es im Entstehen ist. Fotoretusche ist ein gütiger Zauberstab, der die Konturen der Enttäuschung weicher macht, den Blick der anderen durch unendlich viele Filter jagt, bevor er auf das Bild trifft. Doch das ist nur die ständig wechselnde Flagge, die tatsächliche Retusche findet woanders statt – in der Seele. Keine einzige Wahrheit kommt durch, der Zensor ist unbarmherzig auf Glätte und Kompatibilität bedacht.
Ein geschickt geposteter Satz und ein angepasstes Foto reichen völlig aus, und die anderen sprechen das aus, was notwendig ist, um den Zauberspiegel zu aktivieren. "Wer ist die Schönste im ganzen Land? Wer hat das größte Herz?" ... es kommt nicht darauf an. Du ... du ... du, das bedeutet nur: Ich ... ich ... ich.
Niemand sieht sie, wie sie an ihrem Notebook sitzt, wahllos nach den kleinen Schaltern suchend, die den Automaten dazu bringen, genau das auszuspucken, was sie gerade zu brauchen glaubt. Niemand sieht, wie sie immer und immer wieder nach den falschen Dingen greift, immer eine Handbreit daneben im Dunkeln nach dem getastet hat, das ihr vielleicht geholfen hätte, und von dem sie nicht einmal wusste, was es war.
Es scheint ihr nicht mehr wichtig, seit sie den Automaten hat, der die kleinen Stimulationen ausspuckt, die sie haben will. Sie lügt einen Menschen zurecht, von dem sie denkt, dass er gerade gesucht wird – für den und für den und auch für die. Manchmal zieht sie das falsche imaginäre Kostüm über, bevor sie die passende Melodie auf der Tastatur spielt – sie erwischt den falschen Adressaten und merkt es oft nicht einmal.
Die Geschichten, die sie erzählt, verlieren die Logik, auch das merkt sie nicht mehr. Und zu ihrem Unglück erkennen die anderen es auch längst nicht mehr – das Verbiegen und Camouflieren gehört zum Spiel, niemand stößt sich daran. Aber während sie ihre Stücke komponiert, ist hinter ihrem Rücken das Leben, das sie einst wollte, in sich zusammengefallen, es scheint ihr wie eine bloße Bühnendekoration zu sein – ihre Leidenschaften leben in diesem kleinen Ding, das ihr Zugang zur farbigen Welt ihrer Traumexistenz ist. Leidenschaft ist erst echt, wenn sie in diesem Spiegel erscheint. Liebe taugt nur, wenn sie in Buchstaben als gepostete Erklärung abzurufen ist und sichtbar für alle. Herzen mit Flügeln und Glitter und Love-Songs, hingetippte Posts und Mails, die wie ein umgeworfener Kosmetikkoffer die Aufmerksamkeit für einen Moment fesseln.
Jede Idee von dem, was sie einst als Nähe erkannte, verblasst hinter ihrem abgewandten Rücken und sie übersieht es, weil es ohne jede Dramatik geschieht und ohne die geringste glitzernde Spur. Liebe ist einfach, ist wie im Film, ist ein Produkt der eigenen Regie – und man muss nichts dazu tun – das wusste sie einmal besser, aber der Zauberkasten hat sie gelehrt, dass es auch so gehen kann. Man braucht sich nicht anzustrengen, man bekommt alles als Instant-Emotion. Und sie glaubt an ihre Macht, vergisst, dass es nur um Spielwährung geht, die im Leben hinter ihrem Rücken keinen Wert hat.
Sie bringt es durcheinander, denkt an sich als das Bild, das sie erschaffen hat und wirft immerzu ihre selbstgeprägten Münzen in den Automaten, der ihr die Aufmerksamkeit liefern soll, von der sie abhängig ist ... niemand hat ihr die Geschichte vom Salzwasser erzählt, das den Durst nicht löschen kann. Herzen mit Flügeln, romantische Sprüche und digitales Gelächter ... "Grins", tippt sie mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. Und grinsend verblasst ihr wirkliches Leben hinter ihr.
© Textbeitrag "Emotionsautomat – bitte nur passende Münzen einwerfen" sowie Foto "Gitter am Abend": Winfried Brumma (Pressenet), 2012.
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