|
Es gab einmal vor langer Zeit einen Edelmann, einen Granden, der mit seiner Familie in einem großen herrlichen Haus lebte. Er besaß alles, was man sich nur wünschen konnte, seine Frau war ob ihrer Schönheit berühmt und seine Kinder waren allesamt wohlgestalt und gesund.
Im ganzen Land bewunderte man seine Pferde und beneidete ihn um seine Ländereien und seine Herden. Er selber konnte als schöner Mann gelten, noch jung an Jahren und von großer Klugheit. So genoss er alles, was ihm geschenkt worden war und er glaubte, dass sein gutes Leben andauern und sich auch für seine Kinder fortsetzen würde. Doch dann kam die Pest über das Land und nahm viele Leben. Männer, Frauen und Kinder fielen unter ihrem unbarmherzigen Hauch. Nicht viele wurden verschont, es traf Arme wie Reiche, Alte wie Junge.
So kam die Pest auch zu dem großen Haus des Granden und niemand konnte den Eintritt verhindern. Binnen kurzer Zeit starb das schöne junge Weib des Herren, und nicht lange dauerte es, bis ihr die Kinder folgten. Rasend vor Schmerz brüllte und wütete der Witwer, er weinte und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass die Seuche auch ihn dahinraffen sollte – doch er blieb davon verschont.
Nach einigen Wochen verabschiedete sich ein gebrochener Mann von den frischen Gräbern seiner Familie, bestieg sein Pferd und begab sich auf eine Reise, von der er nicht wiederkehren wollte. Und so zog er durch das Land, um den Tod zu suchen, da er es nicht als ehrenvoll ansah, sich selber das Leben zu nehmen. Er war auf Händel aus und das war nicht schwer in diesen Zeiten, denn ein vermeintlich schiefer Blick reichte als Grund für ein Duell aus und man war schnell zur Hand mit den Degen. Doch obgleich er zuweilen eine dunkle Gestalt schemenhaft unter den Zuschauern zu erkennen glaubte, hinterließ er viele Verletzte und auch einige Tote, ohne dass er jemals mehr als einen Kratzer davontrug.
Dann gab es Krieg im Land, und der Edelmann zog mit den Soldaten in die Schlacht. Immer und immer wieder sah er in seinen Träumen den Tod, der vor ihm herging, eingehüllt in einen langen schwarzen Umhang und mit einer blitzenden Sense in der Knochenhand. Verzweifelt versuchte er, die Gestalt einzuholen und darum zu bitten, dass er mitgehen könnte – doch gelang es ihm nie. Meist endete ein solcher Traum damit, dass der Tod am Horizont verschwand und er verzweifelt zurückblieb. Und so folgte er viele Jahre der Fährte der dunklen Gestalt, er zog in Schlachten und duellierte sich, ließ sich in Händel verwickeln und pflegte sogar Pestkranke. Doch nie holte er seinen dunklen Führer ein, immer erhaschte er nur einen kurzen Blick auf den Umhangträger.
So vergingen Jahre, viele Jahre – und immer noch suchte der Mann den Tod. Auf seiner Jagd kam er eines Tages in eine Gegend, die ihm bekannt vorkam. Es war gutes Land, nur nicht bestellt und gepflegt. Unkraut wucherte auf den Äckern und die Weiden waren voller Gras, da es kein Vieh gab, das es kurz hielt. Der Mann spürte sein Herz schmerzhaft schlagen, als er einen einst vertrauten Weg zu einem großen Haus hinabging und dann vor dem aus den Angeln gerissenen schmiedeeisernen Tor seines früheren Anwesens stand. Langsam ging er weiter, bis er an das verfallene Haus kam, dessen leere Fenster in den kalten Tag starrten. Was brauchbar war, hatte schon lange andere Besitzer gefunden, sein einstiges Zuhause war nur mehr eine leere Steinhülle, die langsam verfiel.
Es schmerzte ihn nicht, und er war verwundert darüber, wie viel Zeit vergangen sein mochte, seit dem Tag, an dem er das alles verlassen hatte. Der kühle Wind wehte ihm sein Haar ins Gesicht und er fing eine Strähne ein und sah, dass sie grau war – er war zu einem alten Mann geworden, während er dem Tod hinterherjagte. Und da spürte er mit einmal die Last der Jahre, und mühsam lenkte er seine Schritte zu dem einzigen Ort, der ihm wichtig dünkte – zum Friedhof nahe beim Haus. Die Gräber seiner Frau und seiner Kinder waren kaum zu finden, sie waren völlig von wuchernden Ranken und Gestrüpp bewachsen. Mit müden Händen schob er den Bewuchs zur Seite, bis er den Grabstein erkennen konnte und die Inschriften darauf.
Er war wieder da angekommen, von wo er aufgebrochen war, und nichts war anders geworden. Noch immer war er am Leben und noch immer spürte er den Schmerz des Verlustes nicht schwächer. "Bist du nun endlich gekommen, nach all den Jahren, die ich hier auf dich gewartet habe?" Der Grande fuhr herum, als er die warme Stimme hörte, und blickte in das knöcherne Gesicht des Todes, so wie er es sich gewünscht hatte, seit er fortgezogen war.
Endlich sah er die Gestalt von Angesicht zu Angesicht, und was er sah, stimmte ihn froh. Denn unter dem Umhang trug sie ein langes Kleid und Juwelen auf der Brust. "Santa Muerte", flüsterte er. "Ich hatte dich nicht erkannt, vergib mir den Irrtum, der mich einem Trugbild hinterherjagen ließ."
+ + +
"Santa Muerte" ist ein Phänomen, sie ist der heilige Tod der Lateinamerikaner (vor allem derjenigen, die ihre Wurzeln in Mexiko haben), den sie verehren, wie sonst nur die Heilige Jungfrau Maria verehrt wird.
Und man kann Vergleiche ziehen, denn die Gläubigen schmücken eine Statue mit schönen Gewändern und Schleiern, schmücken sie mit Blumen, Gold und Perlen und zünden ihr zu Ehren Kerzen an. Der Unterschied besteht darin, dass die Heilige ein weibliches Skelett ist, das auch oft eine Sense bei sich trägt. Die katholische Kirche lehnt dies ab, sie stellt Santa Muerte in die Nähe religiöser Kulte, die einen unverkennbar heidnischen Ursprung haben. Sie stellt, so die Kirche, den Sieg Christi über den Tod infrage.
Darüber kann man streiten, denn die Anhängerschaft der Santa Muerte sieht in ihr nichts Morbides oder Düsteres. Man opfert ihr Dinge wie Zigarren, Tequila oder Rosen, wenn man eine Bitte an sie hat. Im Allgemeinen geht es bei diesen Bitten um Liebe, Glück oder Schutz – eigentlich genau um dieselben Wünsche, die man der Heiligen Jungfrau unterbreitet. Wo die Wurzeln dieser besonderen Heiligen liegen, ist nicht ganz klar – es gibt die Theorie, dass sie niemand anderes ist als Mictecacihuatl, die Frau des aztekischen Totengottes, die im Laufe der Zeit zu einem Mischwesen wurde, das Christentum und heidnischen Kult verbindet.
Vielleicht ist sie auch Hekate oder Hel – Göttinnen, die eine Verdüsterung erfuhren durch die neue Lehre. Denn in den alten Zeiten waren sie nicht böse, sondern auch für Wachstum und Leben zuständig. Hekate gebot über das Meer und das Land, stand für Jugend, Licht und Segnung und war Hüterin des ewigen Kreislaufes des Lebens, zu dem auch der Tod gehört, der Ende ist und Anfang zugleich. Das ist deutlich in der Gestalt der nordischen "Hel", deren Haut auf einer Seite schwarz war und auf der anderen Seite weiß. Hel hütete die Toten in ihrem Reich, welches später unter dem Einfluss des Christentums zu einem Ort der schlimmen Bestrafung wurde. Das Wort "Hölle" leitet sich wohl von dem Namen dieser Göttin ab.
Die Kelten kannten das Bild der dreigestaltigen weiblichen Gottheit – der jungen Frau, der Mutter und der weisen Alten – aber dazu gab es auch den jenseitigen Aspekt der verborgenen und abgewandten Göttin. In diesen Zeiten wurde der Tod in das Leben einbezogen und gehörte so selbstverständlich dem Weiblichen an, das auch das Leben und das Wachstum verkörperte.
Die Kirche lehrt nun das Gegenteil – hier steht das Männliche für diese beiden Punkte. Und mehr noch – der Tod wird nicht integriert und als Aspekt des Seins begriffen, sondern gar bekämpft. Das gilt zwar für den spirituellen Tod, nicht für den körperlichen – doch sind die Mysterien in dieser Hinsicht nicht unbedingt klar dargelegt für die Gläubigen. Das Mittelalter hat mit der Erfindung der lokalen Hölle mit realen körperlichen Schmerzen und Qualen den Tod endgültig außerhalb des Lebens gestellt und mit großer Angst belastet. Diese Ausgrenzung ist eigentlich fatal – denn sie verzerrt das Bild vom Leben als Ganzes und bringt niemanden weiter. Das Abendland hat den Tod – im Gegensatz zu anderen Kulturen – mit Morbidität belegt und tabuisiert.
Der Gegensatz der Santa Muerte zeigt eine andere Sicht der Dinge auf und sollte nicht als reines Kuriosum angesehen werden, sondern zum Nachdenken anregen. Sie ist der freundliche Tod, der viel zu geben hat, im Bewusstsein, dass er eigentlich keinen eigenen Stellenwert hat, sondern zum Leben gehört.
© "Das Phänomen Santa Muerte – Der heilige Tod der Lateinamerikaner": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Foto "Santa Muerte" von Not home (Lizenz: gemeinfrei).
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Rezensionen |
Krimi Thriller |
Ratgeber |
die liebenden tarot |
Sagen Legenden |
Fantasy Mythologie
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed